Toskana

Gewöhnlich fährt der Teutone des Kulturgenusses wegen in die Toskana. Gerade weil sie davon so viel zu bieten hat, ist sie nördlich der Alpen beliebter als alle anderen Regionen Italiens. Die Chancen stehen also nicht schlecht, auf der Reise anderen Deutschen zu begegnen, eine Erfahrung, die ja bekanntlich in zweifelhaftem Ruf steht.

Es gibt aber eine Möglichkeit, auch unbekannte Seiten der Toskana zu erleben, die nicht schon in den Reiseführern durchdiskutiert und die noch nicht in irgendwelchen Lifestyle-Magazinen bunt bebildert ausgerollt wurden. Das Rezept ist einfach: man muss sich möglichst weit von den Hauptreisezielen und auch den Insider-Tipps der Reiseliteratur entfernen.

Frühling in der Toskana: bei der Anfahrt säumen weiß-gelbe Tazett-Narzissen Narcissus tazetta und leuchtend rosarote Sternanemonen Anemone hortensis die Straßen.


Frühling in der Toskana: Anemonen und Zypressen

Es ist Ostern, und vor einer Woche lag in Siena etwas Schnee. Erstaunlicherweise scheint der Frühling hier noch nicht so weit vorangeschritten zu sein wie zuhause in Unterfranken. Ein kalter Wind bläst durch die Stadt. Trotzdem radeln zahlreiche linksintellektuelle GymnasiallehrerInnen auf ultraleichten Bikes zur Piazza del Campo herauf. Ihre Anwesenheit deutet auf einen verhältnismäßig hohen Kultur-Index an diesem Ort hin.

Der Blick in den Reiseführer bestätigt diese Annahme. Siena, die Stadt der Gotik, ließ sich in ständiger Rivalität zur mächtigen Nachbarin Florenz zu großen baulichen und künstlerischen Leistungen herausfordern. Dabei haben sich die Senesi zumindest einmal kräftig verhoben. Als sie ihren Dom ab 1339 zur größten Kirche der Christenheit ausbauen wollten, kamen sie nicht weit. Die Stirnwand des geplanten Hauptschiffes kündet von diesem gigantomanischen Projekt. Immerhin ist auf diese Weise ein schöner Platz entstanden, der den Blick auf den elegant proportionierten Campanile freigibt. Er ist aus schwarz-weißem Marmor gemauert, in den Wappenfarben der Stadt.


Domturm in Siena

Zumindest eins gibt’s in Siena, was Florenz nicht hat: einen spektakulären Palio, ein unglaublich hartes Pferderennen, bei dem je 10 der 17 Contrade der Stadt gegeneinander kämpfen. Regeln gibt es fast keine, außer ein paar merkwürdigen: nicht der Reiter muss ins Ziel kommen, sondern das Pferd. Und Verlierer ist nicht die letzte, sondern die zweitplatzierte Contrada. Das ganze Leben in Siena dreht sich um die Contrade, und die beiden Palio-Rennen auf der Piazza del Campo sind die Höhepunkte des Jahres, noch wichtiger als das Fußballspiel gegen Florenz.


Blick von der Torre del Mangia auf die Piazza del Campo in Siena

Zielsicher steuern unsere Radfahrer die Abtei San Galgano südwestlich von Siena an, gleichermaßen schön gelegen und kulturell ergiebig. Der heilige Galgano kam im 12. Jahrhundert auf den Hügel Montesiepi. Der Legende nach beschloss er hier, seinem Ritterleben abzuschwören und Mönch zu werden. Er stieß sein Schwert in den Fels, aus dem es nicht mehr gelöst werden konnte. Die Stelle ist heute noch in der romanischen Rundkapelle zu sehen. Zisterziensermönche ließen sich wenig später in der Ebene am Fuß des Hügels nieder. Die eindrucksvolle frühgotische Abteikirche verfiel nach der Auflösung der Abtei im späten 18. Jahrhundert.


Oratorio di San Galgano sul Montesiepi

Ganz in der Nähe liegt das Naturreservat Farma-Merse. Zahllose »divieto di caccia«-Schilder deuten auf einen hohen Wildschweinbestand hin, SPD-Fraktionsmitglieder kommen hier jedoch nicht vor. Im lichten Wald stehen alte Korkeichen Quercus suber, Baum-Erika Erica arborea, Erdbeerbäume Arbutus unedo und Stechpalmen Ilex aquifolium, dazwischen Alpenveilchen Cyclamen repandum, Anemonen Anemone hortensis und Tazetten Narcissus tazetta. Mit etwas Glück lässt sich auch die Tarquinia-Ragwurz Ophrys tarquinia finden, eine endemische Orchideenart der westlichen Toskana.


Tazett-Narzisse im Naturreservat Farma-Merse

Über gewundene Bergsträßchen geht die Fahrt hinauf in die Colline Metallifere, ein ebenso geheimnisvolles wie untouristisches Bergland mitten drin in der Toskana. Für den Kultursuchenden wird die Luft hier recht dünn, und das liegt nicht an den Schwefeldämpfen, die die Luft durchdringen. Viel sehenswertes Menschenwerk gibt es hier wirklich nicht. Im Bergnest Gerfalco, gleich unterhalb der 1060 m hohen Cima le Cornate gelegen, wurde der Marmor für den Dom von Siena gebrochen. Hier entspringt auch der Fluss Cecina, der durch das sogenannte »Tal des Teufels« fließt, ein Geothermiegebiet vulkanischen Ursprungs. Bei Sasso Pisano ist die Erde heiß; neben dampfenden und erbärmlich stinkenden Fumarolen blubbern kleine Tümpel heißen Wassers.


Die Fumarolen von Sasso Pisano

Typisch toskanische Fotomotive gibt es vor allem im Val d’Orcia zu sehen, das von Siena aus südwärts zieht. Das Tal wurde im 14./15. Jahrhundert zu einer musterhaften Renaissance-Kulturlandschaft ausgestaltet, um die Ideale einer guten Regierung sichtbar wiederzugeben. Ein Umstand, der leider erst ein halbes Jahrtausend später mit der Ernennung zum UNESCO-Welterbe hinreichend gewürdigt wurde, obwohl der heutige Landschaftszustand nicht so sehr von einer guten Regierung kündet. Zwischen den welligen grünen Hängen und den zypressenbestandenen Hügeln liegen nämlich Dörfer, an deren Rändern wie andernorts auch gesichtslose Gewerbegebiete entstanden sind.


Landschaft im Val d’Orcia


Olivenhain bei Castiglione d’Orcia

Das Städtchen Pienza wurde von Papst Pius II. als planmäßig angelegte Idealstadt ausgebaut, ein Stadtbalkon mit großartigem Blick über das Val d’Orcia bis hinüber zum Vulkankegel des Monte Amiata. An den Talhängen sind die eigenartigen Erdformationen der Crete Senesi zu sehen. Irgendwie sehen sie ja aus wie Erddeponien, diese merkwürdigen Hügel. Ob sie von den Renaissancemenschen auch so geplant waren? Jedenfalls sind sie eine Folgeerscheinung der Erosion auf den empfindlichen pliozänen Böden der Gegend. Bis jetzt hat diese offenkundige Landschaftsschädigung aber noch nicht zur Aberkennung des Welterbe-Status geführt.


Crete Senesi

Zu den eigenartigsten Orten der Toskana zählt sicherlich Bagno Vignoni. Bereits die Römer schätzten die 52° heißen Thermalquellen des Ortes. Anstatt einer Piazza nimmt ein riesiges mittelalterliches Wasserbecken den Ortsmittelpunkt ein, das von den Thermalwässern gefüllt wird. Bekannt wurde der Ort auch durch Andrei Tarkowskis Film »Nostalghia«. Allerdings soll das heilende Wasser gegen Neuralgie helfen und nicht gegen Nostalgie (was wohl auch eher tourismusschädigend wirken würde).


Nostalghia: Das Thermalbecken in Bagno Vignoni

In der Nähe des Städtchens Montalcino, wo opulente Genußmittel wie Brunello und Vin Santo erzeugt werden, liegt in einem sanften Tal die ehemalige Benediktinerabtei Sant’Antimo, die heute von einigen Augustinermönchen besiedelt ist. In vollendeter Harmonie fügt sich die romanische, schlank proportionierte Abteikirche in die Landschaft ein. Der Innenraum der Basilika besticht trotz der äußerst zurückhaltenden Architektur durch eine unvergleichliche mystische Dichte.


Abbazia Sant’Antimo

In der südlichen Toskana und im Gebiet um den Monte Amiata gibt es viele Möglichkeiten, Wandertouren fernab des Tourismus zu unternehmen. Sehr empfehlenswert ist beispielsweise eine Tour auf den Monte Cetona. Im Frühling blühen auf der Kuppe und an den Wiesenhängen des Bergrückens zahlreiche Pflanzen, darunter auch viele Orchideenarten.

Noch weiter südwärts, hinter Grosseto, folgt die Maremma, die bis zu ihrer Trockenlegung ein berüchtigtes Malaria-Gebiet war. Vor der Küste liegen die Inseln des toskanischen Archipels. Die tyrrhenische Venus soll ihren Perlenschmuck verloren haben, als sie dem Meer entstieg, und daraus wurden dann die Eilande. Auch der Monte Argentario war eine dieser Inseln, bis sie 1824 mit dem Festland verbunden wurde. Vor zwei Jahrzehnten galt der Argentario als wahres Orchideen-Eldorado, doch seither wurde viel von der Küstenlandschaft bebaut, und viele Garigue-Gebiete liegen brach und verbuschen. Auf dem Argentario sind wohlhabende Römer unseren teutonischen Genußmenschen zuvorgekommen und haben quasi die ganze Küste zum Privatbesitz gemacht.


Felsküste am Monte Argentario

Neben dem obligatorischen »divieto di caccia« ist hier also nun »proprietà privata« das häufigste Schild am Straßenrand. Mit ein wenig Spürsinn sind jedoch noch Küstenbereiche zu finden, die begehbar und erforschbar sind. In der Garigue stehen im April die hübschen rosaroten Blütenkugeln des Italienischen Knabenkrautes Orchis italica, das hier und da auch farbenprächtige Hybriden mit dem Ohnsporn Orchis anthropophora bildet. An Ragwurzarten kommen beispielsweise Ophrys argentaria, Ophrys exaltata subsp. tyrrhena und Ophrys lucifera vor.


Italienisches Knabenkraut, Orchis italica


Ophrys lucifera


Tyrrhenische Ragwurz, Ophrys exaltata subsp. tyrrhena

Auf dem Poggio Capo d’Uomo steht einer der zahlreichen Sarazenentürme, die zur Überwachung der Küste errichtet wurden, sozusagen als mittelalterliches Frühwarnsystem gegen islamistischen Terror. Tief unten an der Felsküste braust die Brandung. Offenbar geht hier kaum jemand Baden, sonst gäbe es einen Pfad hinab. Nach einem kurzen Versuch ist auch klar, warum: schon die erste richtige Welle klatscht uns an die scharfkantigen Felsen, und der Badeversuch endet mit einigen Schnittwunden. Die Sonne versinkt im purpurroten tyrrhenischen Meer. Ach, Italien, wie bist Du schön!


Blick vom Monte Argentario zur Isola del Giglio

Entlang der tyrrhenischen Küste geht die Reise nach Norden. Das etruskische Lucca wurde erst von den Römern überbaut, später von den Langobarden. Einer mittelalterlichen »Bausünde« verdankt die Stadt ihren schönsten Platz: Das römische Amphitheater wurde einfach weitergenutzt und zu Wohnhäusern umgebaut. Inmitten der ehemaligen Arena, deren gleichmäßige Arkadengliederung erhalten geblieben ist, erfreuen sich die Touristen heute am Cappuccino anstatt an Gladiatorenkämpfen. Es gibt wahrlich schlechtere konservatorische Baumaßnahmen.


Piazza dell’Anfiteatro in Lucca

Dass Lucca im Mittelalter zu den bedeutendsten Städten Italiens zählte, wird am überreichen Schmuck der romanischen Kirchen deutlich.

Zwischen Lucca und Pisa liegt ein kleiner Gebirgszug, die Monti Pisani. Herrlich einsam ist es hier, die Luft ist voller mediterraner Kräuterdüfte, und kein Mensch weit und breit. Die Macchien und Garigues bergen eine beeindruckende Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten.


Naturreservat Monte Castellare

Am bekanntesten ist das Reservat am Monte Castellare, wo zahlreiche Orchideenarten wachsen, beispielsweise Schmetterlings-Knabenkraut Anacamptis papilionacea, diverse Ragwurze (darunter die seltenen Ophrys exaltata subsp. tyrrhena, O. speculum) und mehrere Serapias-Arten. Am Hang des Monte Castellare steht die Ruine einer Villa, die der polnischstämmige Industrielle Sigismondo Bosniasky 1873 erbauen ließ. Das wäre auch heute noch ein schöner Platz zum Wohnen, mit Blick direkt auf die Piazza dei Miracoli in Pisa: Dom, Baptisterium, Schiefer Turm. Wenn nur nicht der Fluglärm der startenden und landenden Billigflieger wäre.


Spiegel-Ragwurz, Ophrys speculum


Pflugschar-Zungenstendel, Serapias vomeracea

Die Rundreise durch die Toskana geht zu Ende, aber wir kommen wieder. So wie die vielen anderen Teutonen auch. In letzter Zeit fällt allerdings auf, dass die Begegnungen mit den deutschen Bundestags-, Kommunal- und Stammtischpolitikern seltener werden. Wahrscheinlich haben sie schon alle Sehenswürdigkeiten gesehen, alle toskanischen Spezialitäten durchprobiert und sich ein neues Betätigungsfeld gesucht.

Wir sollten mal in Umbrien nachsehen.

Fotos aus der Toskana auf flickr

Die Fotos der einzelnen Reisen:
2003: Toskana
2005: Toskana und Rom
2007: Toskana, Umbrien, Abruzzen

Fotos, sortiert nach Orten und Themen:
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2 Kommentare

  1. Als Franke, der seit 1978 in der Toskana lebt, habe ich Ihre aufmerksamen Beobachtungen mit Genugtuung und Zustimmung gelesen.

    Antwort von Marco:
    Vielen Dank, Herr Krüger. Da haben Sie die „Toskana-Fraktion“ quasi kommen und gehen sehen. Vieles hat sich in der Zwischenzeit verändert oder gewandelt – auch Schettino kam und ging, und Siena wäre sicher froh, wieder mal gegen die Fiorentina zu spielen…
    Marco

  2. Meine Frau und ich waren vom 01.05.2022 bis 15.05.2022 in Bagni San Filippo. Wir haben in der Näheren Umgebung tausende von Orchideen gesehen. Am beeindruckensten war Spoerri Park bei Seggiano. Dort wachsen die Ragwurzen auf den Wiesen so dicht, das man diese gar nicht betreten kann.

    Antwort von Marco:
    Toll! Vielen Dank für die Info.
    Gruß von Marco

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