Turin

Der Strom teutonischer Italienurlauber fließt generell an Turin vorbei. Das hat sich auch nach der Winterolympiade 2006 nicht geändert. Woran das wohl liegt? Sicher nicht allein an der geographischen Lage. Wahrscheinlich ist Turin einfach zu unitalienisch für den dolce-vita-süchtigen deutschen Touristen. Die maßlos weitläufige Architektur der savoyischen Residenzstadt, die Dominanz der Großindustrie, der morbide Charme einer Metropole, die immer unter Minderwertigkeitskomplexen gegenüber dem glamourösen Nachbarn Mailand gelitten hat – diese Stadt scheint nur etwas für Kopfmenschen zu sein.


Blick von der Superga über Turin

Im Jahr 1557 eroberte der savoyische Herzog Emanuel Philibert das Piemont zurück. Da keine der piemontesischen Städte seine Anforderungen an eine standesgemäße Residenz erfüllte, wählte er das Landstädtchen Turin aus, das sich in den Ruinen eines Römerkastells eingenistet hatte, und begann mit der Umgestaltung. Nachdem die Savoyer 1706 auch den Spanischen Erbfolgekrieg gewannen, führte der Architekt Filippo Juvarra im Auftrag des savoyischen Königshauses den großzügigen, ja maßlosen Ausbau der Stadt fort. In der Folge wurde Turin zu einer der prachtvollsten Städte Europas, und ihre endlosen Straßenachsen scheinen erst auf den Alpengipfeln zu enden – wenn nicht gerade die zähen Nebel der Poebene den Blick versperren.


Kuppel von San Lorenzo

Kuriose Architektur hat in Turin Tradition. Vor Juvarra arbeitete bereits Guarino Guarini als Hofarchitekt der Savoyer. Zu seinen orignellsten Werken gehören die Kuppeln der Hofkapelle San Lorenzo und der Cappella della Sacra Sindone, die als Heiligtum für das Turiner Grabtuch errichtet wurde. Guarinis merkwürdige Kuppelkonstruktionen galten unter Kunsthistorikern lange Zeit als verschrobene Werke eines Exzentrikers, bis man die geometrische Virtuosität seiner Architektur durchschaute.


Monte dei Cappuccini


Basilica di Superga

Die Basilica di Superga wurde als Votivkirche auf einem Ausläufer der Colli Torinesi errichtet. Herzog Vittorio Amadeo II. gelobte den Bau der Kirche, als Turin 1706 von französischen Truppen belagert wurde. Nach der erfolgreichen Verteidigung wurde Filippo Juvarra mit den Bauarbeiten betraut, und er richtete die Kirche äußerst wirkungsvoll auf das Stadtzentrum aus. In der Krypta ließen sich die Savoyer fortan bestatten. Dass auch Helden des neuzeitlichen Italien hier begraben sind, hat einen tragischen Hintergrund: Die Mannschaft das AC Turin und somit ein beträchtlicher Teil der damaligen Nationalmannschaft Italiens kam 1949 bei einem Flugzeugunglück ums Leben, als ihre Maschine im Nebel am Superga-Hügel zerschellte.


Mole Antonelliana

Im Stadtprospekt Turins sticht der monströse Bau der Mole Antonelliana hervor. Der Architekt Alessandro Antonelli war 1860 von der Jüdischen Gemeinde Turins mit dem Bau einer Synagoge beauftragt worden, änderte jedoch eigenmächtig die Pläne und ließ das Gebäude immer höher und höher in den Himmel bauen. Die Gemeinde wurde mißtrauisch und ließ das Gebäude von einer Gutachterkommission untersuchen. Die Ergebnisse brachten Antonellis irrsinnige Pläne zutage, und die Gemeinde trat das Gebäude an die Stadt ab – auch, weil die finanziellen Möglichkeiten längst erschöpft waren. Da sich der Stadtrat so einen gewaltigen Torso im Stadtbild nicht vorstellen konnte, durfte Antonelli weiterbauen und trieb sein Werk auf die Spitze – bis auf 167 Meter.

Nietzsche, bereits nah am Wahnsinn, weilte 1889 in Turin. Über seine Begegnung mit der gerade fertiggestellten Mole schrieb er nieder: »Vorhin ging ich an der Mole Antonelliana vorbei, dem genialsten Bauwerk, das vielleicht gebaut worden (merkwürdig, es hat noch keinen Namen), aus einem absoluten Höhentrieb heraus, – erinnert an gar nichts außer an meinen Zarathustra. Ich habe es Ecce homo getauft und im Geiste einen ungeheuren freien Raum herum geschaffen.«


Mole Antonelliana

Nach der Fertigstellung stand das Gebäude die meiste Zeit leer. Es ist nicht einfach, ein derartiges Raumvolumen zu nutzen. Nach einigen Restaurationen und statischen Verstärkungen wurde 1998 das Nationale Filmmuseum in der Mole eröffnet, und endlich hat das Gebäude auch einen Zweck. Nichts für schwache Nerven ist die Fahrt mit dem Seilaufzug hinauf zur Aussichtsplattform. Der Einstieg in die gläserne Kabine ist im Kellergewölbe untergebracht, dann stößt die Kabine durch die Decke in die riesige, über 80 Meter hohe Kuppelhalle, schließlich kommen die Kuppelwände immer näher, bis die kleine Kapsel aus dem Gewölbe ploppt und plötzlich auf der Aussichtsplattform hoch über der Stadt zum Halten kommt.


Blick über Turin

Von der Mole Antonelliana reicht der Blick über die Turiner Innenstadt bis zum Monviso und zum Monte Rosa, vorausgesetzt das Wetter macht mit. Bei guter Sicht ist der Aufenthalt hier oben ein besonderes Erlebnis, bei Nebel kann man sich stattdessen auch gleich ins Nachtleben stürzen. In den Seitengassen der Stadt gibt es hervorragende Restaurants, die alle Finessen der piemontesischen Küche bieten. Besonders empfehlenswert sind die äußerlich unscheinbaren Lokale, die abends ab Acht voll von Einheimischen sind. Solche Lokale sind von Außen an den beschlagenen Scheiben und an den angeregten Unterhaltungen von drinnen erkennbar. Und am Nebentisch bekommt man dann am ehesten mit, wie diese unitalienisch verschlossene Stadt wirklich tickt.

Bilder aus Turin auf flickr

Fotos aus Turin

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