Die Arbeitskreise Heimische Orchideen der Bundesrepublik Deutschland haben für das Jahr 2021 das Kriechende Netzblatt (Goodyera repens) zur Orchidee des Jahres gewählt, um auf die vielfältigen Gefährdungsursachen dieser Art hinzuweisen.
Merkmale und Biologie
Das Kriechende Netzblatt gehört zu einer Orchideengattung aus der Gruppe der Juwelenorchideen, die durch netzadrige, immergrüne Blätter gekennzeichnet sind. Sie ist benannt nach dem britischen Botaniker John
Wie alle unsere heimischen Orchideen, ist es eine ausdauernde krautige Pflanze, jedoch die einzige mit immergrünen Blättern. Aus den horizontal kriechenden, verästelten, fleischigen Rhizomen zweigen seitliche Triebe ab, aus denen sich die Blattrosetten entwickeln. Je nach Witterung und Wachstumsbedingungen kommen davon mehr oder weniger viele zur Blüte. Wenn ein Trieb geblüht hat stirbt danach die Rosette ab. Ansonsten bleibt sie grün und überwintert, gemeinsam mit den bereits wieder neu gebildeten Rosetten. So entstehen an Wuchsorten mit geeigneten Bedingungen gesellige Ansammlungen von Blattrosetten. Die Laubblätter sind dunkelgrün, haben eine oval-lanzettliche Form und sind kurz gestielt. Die Blattadern bilden ein charakteristisches weißlichgrünes, mehr oder weniger kontrastreiches Netz. Daran ist diese Orchideenart auch im Winterhalbjahr gut erkennbar.
Aus der Mitte der Rosette wächst ein 8 bis 25 cm hoher, drüsig behaarter Stängel. Der Blütenstand blüht relativ langsam auf. Er besteht aus bis zu 25 einseitswendig angeordneten, 4-6 mm kleinen weißen Blüten. Die Sepalen und Petalen stehen glockig zusammenneigend, auch sie sind außen drüsig behaart. Die Lippe ist spornlos, jedoch im hinteren Teil bauchig ausgebildet und nektarführend. Nach vorne läuft sie rinnig, spitz und abwärts gebogen aus. Die Bestäubung erfolgt durch Bienen.
Lebensraum und Verbreitung
Das Kriechende Netzblatt wächst vorwiegend in moosigen, nicht zu trockenen Nadelwäldern. Solche Lebensräume kommen in Mitteleuropa als Primärhabitate in den Alpen und im Alpenvorland sowie teilweise in Küstenbereichen vor. Die Nadelwälder im Mittelgebirgsraum sind hingegen überwiegend Sekundärbiotope, die auf Anpflanzungen oder Samenanflug zurückgehen. Hier bevorzugt die Orchidee mittelalte Kiefernwälder mit wenig Unterwuchs. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Vorliebe für kalkhaltige Böden, wenngleich die Art nicht strikt daran gebunden ist. Das Kriechende Netzblatt kommt auch in Übergangsstadien von Lebensräumen vor, wenn beispielsweise Wacholderheiden einen hohen Kiefernanteil haben, oder wenn sich Kiefernwälder sukzessionsbedingt zu Mischwäldern weiterentwickeln.
Gefährdung und Ursachen
Nachdem das Kriechende Netzblatt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts durch weit verbreitete Kiefernaufforstungen zunächst profitierte und im Bestand zunahm, gingen die Vorkommen bereits um die Jahrtausendwende zurück, weil viele Kiefernforste sich auf natürliche Weise zu Mischwäldern weiterentwickeln oder weil aufgrund forstlicher Maßnahmen diese Entwicklung gefördert und beschleunigt wird. Lokal bedroht ist diese kleine und konkurrenzschwache Art jedoch auch durch die großen Wildschwein-Bestände, die in den moosreichen Wuchsorten oftmals starke Schäden anrichten.
Im 21. Jahrhundert kamen dann zunehmend heiße und trockene Sommer als Gefährdungsursache hinzu. An vielen Wuchsorten trocknet das Moos dadurch zeitweise aus, wodurch der Orchidee die Lebensgrundlage entzogen wird, da sie oberflächennah in der Moosschicht wurzelt und auf deren Feuchtigkeit angewiesen ist. Infolge dessen sind viele größere Bestände bereits stark dezimiert, etliche Kleinvorkommen bereits erloschen. Damit ist das Kriechende Netzblatt in besonderer Weise ein Verlierer der Klimaentwicklung der letzten Jahre. Nur in Regionen, die bisher weniger stark von der Trockenheit betroffen waren, ist die Situation aktuell noch etwas günstiger.
Schutz und regionale Gefährdung
So wie alle heimischen Orchideen, gehört auch das Kriechende Netzblatt zu den gesetzlich geschützten Arten. Es wird in der Roten Liste der Farn- und Blütenpflanzen (2018) bundesweit als gefährdet geführt, regional ist diese Gefährdung jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt. In den Roten Listen von Brandenburg, Berlin, Hamburg, Sachsen und Schleswig-Holstein wird die Art als ausgestorben gelistet. In Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen/ Bremen und dem Saarland ist sie vom Aussterben bedroht. In Sachsen-Anhalt und Thüringen wird sie als stark gefährdet eingestuft, in Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz als gefährdet. Auf der Vorwarnliste steht sie in Baden-Württemberg; lediglich in Nordrhein-Westfalen wird sie gar nicht in der Roten Liste geführt, was aber auch hier inzwischen nicht mehr der tatsächlichen Gefährdungssituation entspricht.
» Das Faltblatt zum Download (pdf)
Herausgeber: Arbeitskreise Heimische Orchideen Deutschlands
Text und Layout: Marco Klüber, AHO Bayern
Fotos: Florian Fraaß, Stephan Lang, Mathias Lohr, Marco Klüber
Verbreitungskarte: Thomas Schneider
Druck: Siebdruck Glockner, 56281 Dörth/Hunsrück