Biologie der Orchideen Orchideen in der Rhön und Mainfranken

Charles Darwin schrieb dem Orchideenkundler John Lindley einmal: »Orchideen haben mich mehr fasziniert als fast alles andere in meinem Leben.« Diese Faszination geht für den Naturfreund natürlich zunächst vom prächtigen Erscheinungsbild der Orchideen aus. Beschäftigt er sich jedoch intensiver mit dieser Pflanzenfamilie, so wird er von der Biologie der Orchideen ebenso fasziniert sein.

Physiologie und Lebensweise

Die Orchideen bestechen nämlich nicht nur durch ihre einzigartig schönen Blüten, sondern auch durch ihre Physiologie und Lebensweise. Orchideen können riesige Mengen an winzigen Samen produzieren, die zwar mit dem Wind sehr weit verbreitet werden, jedoch für eine erfolgreiche Keimung auf besondere Bedingungen angewiesen sind. Im Gegensatz zu vielen anderen Pflanzensamen hat der Orchideensame nämlich keinerlei Nährgewebe zur Verfügung. Zur Keimung ist daher die Infektion mit einem Wurzelpilz notwendig. Der Orchideenembryo ist ein kugeliger Körper, der nur aus etwa 30 Zellen besteht. Er ist von der Carapace umgeben, einer dicht anliegenden inneren Samenhülle, und der Testa, einer ballonartigen äußeren Samenschale, die nur aus einer einzigen Schicht von Zellen besteht und maßgeblich zur Flugfähigkeit des Samens beiträgt. Bei der Keimung sind alle Arten auf die Mykorrhiza angewiesen, die Partnerschaft der Orchidee mit einem Wurzelpilz. In späteren Lebensphasen können sich manche Arten auch ohne den Pilz er­nähren, andere aber bleiben zeitlebens von ihm abhängig. Im ers­ten Stadium dieser Symbiose profitiert nur die Orchidee vom Pilz und gewinnt ihm Kohlehydrate, Eiweiße und Aminosäuren ab, später liefert die Orchidee auch dem Pilz Nährstoffe. Sofern sich ein physiologisches Gleichgewicht des Pilzes und des Keimlings einstellt, wächst dieser durch sukzessive Verdauung der Nahrung heran, andernfalls stirbt der Keimling ab. Nach Ausbildung eigener Wurzeln und Blattorgane können sich manche Arten autotroph ernähren, andere erhalten die Mykorrhiza jedoch lebenslang aufrecht. So sind die blattlosen Arten Korallenwurz, Widerbart und Nestwurz auf die Ernährung durch den Pilz angewiesen, da sie zu wenig oder überhaupt kein Chlorophyll bilden, um sich autotroph ernähren zu können.

Andere Arten wiederum nutzen die Pilzsymbiose eher als Zubrot. Von manchen Arten wie den Stendelwurzen, Waldvögelein, aber auch der Fliegen-Ragwurz wurden blühende chlorotische Exemplare gefunden. Da sie keine Photosynthese betreiben können, müssen auch sie offenbar ganz aus der Pilzernährung überlebensfähig sein. Von manchen Arten wie beispielsweise dem Bleichen Waldvögelein ist bekannt, dass sie einen Großteil ihres Kohlenstoffbedarfs aus Baumwurzeln beziehen, mit denen sie durch das Myzel ihres Wurzelpilzes verbunden sind. Dieses Phänomen wird als Epiparasitismus bezeichnet. Recht unterschiedlich sind die Wurzelformen der heimischen Orchideen. Grundsätzlich sind Rhizomorchideen und knollentragende Orchideen zu unterscheiden. Rhizomorchideen erneuern sich stetig entlang der Sprossachse. Die Waldvögelein- und Stendelwurz-Arten bilden horizontale Rhizome mit kurzen, fleischigen Wurzeln. Der Frauenschuh vermehrt sich oft durch Sprossteilung und bildet dann Horste aus Ramets genetisch identischer Pflanzen.

Eine Sonderstellung unter den Rhizomorchideen nehmen Korallenwurz und Widerbart ein, deren wurzelloses Rhizom korallenartig verzweigt ist. Die Nestwurz hat dagegen ein kriechendes Rhizom mit vielen fleischigen Seitenwurzeln. Auch das Sumpf-Weichblatt gehört zu den Rhizomorchideen, ihr Rhizom wächst jedoch vertikal mit dem Torfmoos und bildet Jahr für Jahr übereinander Pseudobulben aus.

Knollentragende Orchideen erneuern jährlich ihre Wurzelknolle. Während sich aus der alten Knolle der oberirdische Spross entwickelt, reift an einem Seitentrieb bereits die Knolle für das nächste Jahr heran. Nach dem Ende der Vegetationsphase stirbt dann die alte Knolle ab und die neue Knolle überdauert die Ruhephase. Viele der aus dem Mittelmeergebiet stammenden Arten, beispielsweise Bocks-Riemenzunge, Ohnsporn, Pyramiden-Orchidee und die Ragwurze, bilden ihre grünen Blätter bereits im Herbst aus. Dies ist als Anpassung an das mediterrane Klima mit milden Wintern und starken Winterniederschlägen zu verstehen. In unseren Breiten müssen empfindliche Arten jedoch mit stärkeren Frösten als in ihrer südländischen Heimat leben, und besonders nach schneearmen Wintern sind häufig Frostschäden an den Blattrosetten zu beobachten. Die Winterblattbildung führt bei der von August bis September blühenden Herbst-Wendelähre dazu, dass der blühende Stängel, dessen Blätter längst verwelkt sind, neben der neuen Blattrosette der nächsten Vegetationsperiode steht. Sogar eine immergrüne Art gibt es unter den heimischen Orchideen: das Kriechende Netzblatt, dessen Sprosse sich durch Seitentriebe stetig erneuern und die in der Regel erst absterben, nachdem sie geblüht haben. Relativ einheitlich ist bei den einheimischen Arten der Aufbau des Sprosses. Aus dem Rhizom oder der Knolle wächst ein unverzweigter, beblätterter Stängel. Anzahl und Anordnung der Blätter sind sehr unterschiedlich, wenngleich die Orchideenblätter, wie bei allen Einkeimblättrigen, grundsätzlich recht einfach strukturiert sind. Das Formenspektrum reicht von grasartig-schmal über lanzettlich bis hin zu eiförmig. Auch hier nimmt das Kriechende Netzblatt mit seinen gestielten, netzadrigen Blättern wieder eine Sonderstellung ein. Viele Knollenorchideen haben bodennahe, rosettig genäherte Grundblätter, bei anderen wiederum sind die Blätter am Stängel verteilt. Die Waldhyazinthen und die Zweiblätter haben normalerweise zwei typische, scheinbar gegenständige Blätter. Korallenwurz, Nestwurz, Widerbart und auch Kleinblättrige Stendelwurz tragen nur kümmerliche, rudimentäre Blätter.

Aus dem Stängel entwickelt sich eine unverzweigte Infloreszenz, die je nach Art eine sehr unterschiedliche Anzahl von Blüten trägt. Der Frauenschuh hat meist eine und nur ganz selten mehr als zwei Blüten, und auch Widerbart, Korallenwurz und die Ragwurze bilden in der Regel nur wenige Blüten aus. Besonders reichblütig mit bis zu 100 und mehr Blüten können dagegen Ohnsporn, Bocks-Riemenzunge und Mücken-Händelwurz sein. Bei den meisten Arten stehen die Blüten allseitig an der Infloreszenz, bei den Stendelwurzen und beim Kriechenden Netzblatt sind sie einseits­wendig, bei der Herbst-Wendelähre spiralförmig angeordnet.

Blütenbiologie

Aufbau einer Orchideenblüte am Beispiel der Sumpf-Stendelwurz

Der Reiz des Seltenen, des Besonderen umgibt die Orchideen – das liegt vor allem an ihrer extravaganten, exotischen Gestalt und ihren schönen Blüten. Die Orchideenblüte bedient sich raffinierter Tricks, um Bestäuber anzuwerben: Manche Orchideen locken ihre Besu­cher mit Nektar, andere täuschen dagegen nur ein Nektarangebot vor. Einige Arten imitieren nahrungsreiche Pflanzen, wieder andere bieten kleinen Insekten Schlafstätten, und die Ragwurzblüten locken gar mit sexuellen Reizen. Dabei sind aber nicht nur die Methoden des Anlockens, sondern auch die Mechanismen der Bestäubung recht abenteuerlich. Die Orchideenblüte folgt einem sehr speziellen Bauplan. Während andere Einkeimblättrige einen radialsymmetrischen Blütenaufbau haben, zeichnen sich die Orchideen durch ihre dorsiventrale, achsensymmetrische Blütengestalt aus. Das Perianth besteht aus zwei Blütenkreisen mit drei Sepalen und drei Petalen.

Die drei Sepalen, die Blütenblätter des äußeren Kreises, sind bei den heimischen Arten mehr oder weniger gleich gestaltet. Beim Frauenschuh sind die beiden seitlichen jedoch miteinander verwachsen und stehen nach unten. Im Gegensatz zu den nah verwandten Liliengewächsen sind die drei Petalen, die Blütenblätter des inneren Kreises, nicht gleichförmig, sondern unterschiedlich gestaltet. Dabei ist das unpaarige Petal zu einem besonderen, meist sehr
auffälligen Blütenblatt umgebildet: dem Labellum.

Diese »Orchideenlippe« ist näher mit den Bestäubungsorganen verwachsen als mit den paarigen Petalen. Die Lippe ist bei vielen Arten flächig oder gelappt, bei den Stendelwurz-und Waldvögelein-Arten zweiteilig. Der Frauenschuh hat eine pantoffelförmige, bauchige Lippe, und die flauschig-pelzigen Blütenlippen der Ragwurze ahmen Insektenkörper nach. Bei den meisten Arten zeigt die Lippe in der offenen Blüte nach unten. In diese Position gerät sie durch die Resupination um 180°, also die Drehung der Blüte um die Achse des Fruchtknotens. Ausnahmen unter den heimischen Arten sind Widerbart und Sumpf-Weichblatt, deren Lippen nach oben weisen. Bei zahlreichen heimischen Arten trägt die Lippe einen mehr oder weniger langen Sporn, der Nektar enthält oder aber das Vorhandensein von Nektar nur suggeriert.

Bestäubung

Die weiblichen und männlichen Bestäubungsorgane der Orchideenblüte sind zum Gynostemium, dem so genannten Säulchen, verwachsen. Dabei ist das einzige fertile Staubblatt (nur beim Frauenschuh sind es zwei) mit dem Griffel und der Narbe verwachsen. Das übrige oder die restlichen beiden sind zu Staminodien umgewandelt. Die Pollen werden in sehr großer Zahl produziert und sind zu Paketen verwachsen, die als Pollinien bezeichnet werden. Sie bestehen aus Massulae, Pollenbröckchen von bröseliger Konsistenz, und stehen zu zweit in Pollinienfächern, bei manchen Arten auch zu viert. An ihrem herausschauenden Ende haben sie eine Klebescheibe, das Viscidium. Bei der Berührung durch ein Bestäubungsinsekt bleiben die Pollinien so am Insekt haften. Bei den Arten der Gattung Neottia wird durch einen Sensor ein Leimtröpfchen ausgelöst, das zwischen Pollinienstiel und Insektenkörper schießt und die Pollinien fest mit diesem verkittet. Innerhalb kurzer Zeit krümmen sich dann die Stielchen dann nach vorn, so dass die Pollinien beim nächsten Besuch einer artgleichen Blüte an der Narbe haften bleiben können. Aufgrund der Konsistenz der Pollinien bleiben meist nur Teile davon haften, beim nächsten Besuch weitere. Mit dieser Methode kann eine sehr zielgerichtete Bestäubung erfolgen.


Ob diese Hummel schon einen schweren Kopf von den Pollenpaketen hat? Nektar sucht sie auf den Blüten von Fuchs‘ Knabenkraut jedenfalls vergeblich.

Zahlreiche heimische Arten sind Nektarblumen und locken die Insekten auf herkömmliche Weise, also mit Nektar, an. Die Stendelwurz-Blüten bieten ihren Nektar beispielsweise in einer schüsselförmigen Mulde an, dem Hypochil der Lippe. Die langspornigen Händelwurze und Waldhyazinthen sind Schmetterlingsblumen. An ihren Nektar kommen nur Falter mit langem Rüssel. Die Knabenkräuter locken mit prächtigen, verheißungsvollen Blüten, einem Sporn sowie Duftstoffen, täuschen aber nur ein Nektarangebot vor. Daher werden diese Arten als Nektartäuschblumen bezeichnet. Die Waldvögelein-Arten tragen gelbliche, kräuselige Leisten auf den Lippen, womit sie Pollen vortäuschen. Darauf fallen Pollenräuber herein, die dann auf ihrer vergeblichen Suche an die Klebescheiben stoßen. Auch der Frauenschuh lässt sich mittels raffinierter Tricks bestäuben: Er lockt Insekten mit Duftstoffen an. Die Insekten fallen vom glitschigen Lippenrand in den Schuh und können nur an den Bestäubungsorganen entlang wieder ins Freie entweichen.

Die Ragwurze sind als Sexualtäuschblumen bekannt. Sie imitieren in Form, Farbe, Behaarung und Duft weibliche Insekten und regen die Insektenmännchen zur Pseudokopulation an, wobei die Insekten die Blüten bestäuben. Die Raffinesse der Orchideen geht dabei so weit, dass sich die Blüten kurz vor dem Erscheinen der »echten« Weibchen öffnen und sich somit einen strategischen Vorteil vor den Weibchen verschaffen. Einige Arten haben sich aus der Abhängigkeit von Bestäubern gelöst und bestäuben sich selbst. Dabei ist zwischen fakultativer und obligater Autogamie zu unterscheiden. Die Blüte der Nestwurz bei­spielsweise kann nur für kurze Zeit von Insekten bestäubt werden, danach trocknet die Klebescheibe ein. Der Pollen zerbröselt jedoch und fällt auf die Narbe. Einige Epipactis-Arten wie Schmallippige und Müllers Stendelwurz bestäuben sich dagegen generell selbst, und gelegentlich bleiben dabei sogar die Blüten geschlossen. Bei der Bienen-Ragwurz krümmen sich die Pollenstiele, so dass die Pollinien zielgerichtet auf der Narbe ankommen. Autogame Orchideenarten haben meist einen höheren Bestäubungsansatz als allogame, was freilich nicht heißt, dass sie dadurch generell häufiger wären.

Variabilität

Wie kaum eine andere Pflanzenfamilie konfrontieren uns die Orchideen mit einer verwirrenden Farben- und Formenvielfalt. Dabei sind bereits die Unterschiede »normaler« Merkmale mancher Arten erstaunlich. Durch das Auftreten von Farb- und Strukturvarianten multipliziert sich die Fülle der Merkmalsabwandlungen sogar noch. Varianten lenken dank ihrer auffälligen Erscheinung und ihres meist vereinzelten Auftretens unter normalen Pflanzen die Aufmerksamkeit auf sich. Am häufigsten sind dabei farbliche Variationen zu beobachten. Diese können unterschiedlichste Ursachen haben und sind prinzipiell bei allen Arten möglich. Ein Defekt in der Kette der chemischen Farbstoffsynthese führt zur Hypochromie, Unterpigmentierung; dies äußert sich dann in einer hellen oder ganz weißen Blütenfarbe. Doch auch Hyperchromien, Überpigmentierungen, sind möglich. Kann eine Pflanze kein Chlorophyll ausbilden, so erscheint sie elfenbeinfarben oder blass weißlich. Sie ist dann aber nur überlebensfähig, wenn sie den Ausfall der Photosynthese mittels Mykorrhiza kompensieren kann. Das setzt voraus, dass die Symbiose mit dem Wurzelpilz zeitlebens erhalten bleibt. Solche chlorotischen Formen gibt es beispielsweise bei den Waldvögelein-und Stendelwurz-Arten, aber auch bei der Fliegen-Ragwurz. Die Palette der Strukturvariationen reicht von einfachen Abweichungen der Lippenform und des Lippenreliefs über dimensionale Anomalien bis hin zu extremen Fehlbildungen. Gelegentlich wurde von Atavismen berichtet, bei denen die Orchideenblüte radialsymmetrisch ausgebildet wird (quasi ein Rückfall in evolutionär längst bewältigte Zeiten). Auch gibt es hin und wieder Pflanzen mit fehlenden und überzähligen Blütenblättern sowie ganz sonderbare Monstrositäten wie beispielsweise das Fleischfarbene Knabenkraut mit selbstähnlich ineinander geschachtelten, immer kleiner werdenden Blütenteilen.

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