So unterschiedlich die heimischen Orchideen sind, so verschieden sind auch ihre Lebensgewohnheiten und Lebensräume. Sie bevölkern Buchenwälder genauso wie Halbtrockenrasen, Nadelwälder, Borstgrasrasen, Sümpfe und Moore. Dabei kommt aber nur ein Teil der heimischen Arten in den Lebensräumen vor, die von Natur aus an ihren Standorten angesiedelt sind. Das heißt: Hätte der Mensch den Orchideen nicht zusätzliche Lebensräume geschaffen, so wären zahlreiche Arten in der Rhön wohl gar nicht heimisch.
Zwar ist die Rhönlandschaft schon von Natur aus sehr vielgestaltig, doch erst der Mensch hat sie im Laufe der Jahrhunderte durch Rodung, Siedlung, Ackerbau, Weide- und Wiesenwirtschaft zu einer strukturreichen Kulturlandschaft umgewandelt, in der bis heute zahlreiche bedrohte Pflanzen und Tiere überleben konnten. Ohne menschliches Zutun wäre die Rhönlandschaft zum allergrößten Teil bedeckt von Laubwäldern mit hohem Buchenanteil. Nur ein kleiner Flächenanteil von Hochmooren, Blockhalden und Felsen ist von Natur aus waldfrei.
Landschaftsgeschichte
Seit der letzten Eiszeit war Mitteleuropa nie mehr dicht bewaldet, und so konnten Arten zuwandern, die im Offenland heimisch sind. Erst recht seit der Sesshaftwerdung des Menschen, der Ackerbau und Weidewirtschaft betrieb, entstanden differenzierte Biotopstrukturen und günstige Lebensbedingungen für Pflanzen mit unterschiedlichsten Ansprüchen. In manchen Teilen der Rhön sind die Spuren der mittelalterlichen Landnutzung noch erkennbar, und solche kleinräumig fragmentierten Landschaftsstrukturen gehören zu den ökologisch wertvollsten Lebensräumen.
Sogenannter Blockschuttwald am Steinberg bei Bischofsheim
Dabei sind die heutigen, klaren Grenzen zwischen Acker, Weide, Mähwiese und Wald Erfindungen der Neuzeit. In früheren Zeiten wurde das Land viel flexibler und vielschichtiger genutzt. So konnten sich auch die Orchideen in der sich ständig wandelnden Landschaft immer wieder neue Lebensräume und Nischen erschließen. Indem der Mensch die Landschaft kultivierte, hegte und pflegte er ganz nebenbei auch anspruchsvolle Pflanzen- und Tierarten. Der Verlust einzelner Standorte aufgrund von Nutzungsänderungen konnte auf diese Weise meist kompensiert werden.
So war es über Jahrhunderte hinweg auch in der Rhön. Mit der Industrialisierung änderten sich jedoch die Methoden der Landwirtschaft und die Lebensbedingungen für heimische Orchideen. Die Landschaft wurde besser nutzbar gemacht, aber dadurch strukturärmer. Zwangsläufig kam es zum Rückgang der Orchideenvorkommen – zuerst schleichend und dann ganz massiv. Stellenweise haben in der Rhön reich strukturierte, vernetzte und artenreiche Landstriche überdauert. Doch in der heutigen Zeit sind viele Orchideenlebensräume neuen Bedrohungen ausgesetzt: zum Einen die vollständige Nutzungsaufgabe, verbunden mit der darauf folgenden natürlichen Sukzession, und zum Anderen die weiter voranschreitende Landschaftszerstörung durch Intensivstlandwirtschaft und übermäßigen Flächenverbrauch von Gewerbe, Verkehr und Infrastruktur.
Wälder
Die Rhön gilt als Buchenland, und sie liegt mitten im Kernverbreitungsgebiet der Rotbuche. Buchenwälder kommen in allerlei standortbedingten Ausprägungen vor. Die orchideenreichste davon, der sogenannte Kalk- oder Orchideen-Buchenwald (Cephalanthero-Fagion), ist auf südexponierten Hängen angesiedelt. Zwischen den wenigen Sträuchern finden zahlreiche Knollengeophyten wie Märzenbecher und Lerchensporn ihren Platz. Häufig sind hier Nestwurz und Bleiches Waldvögelein anzutreffen, oft auch Rotes Waldvögelein, die Stendelwurz-Arten, Manns-Knabenkraut und Grünliche Waldhyazinthe. Sehr selten sind dagegen Frauenschuh, Korallenwurz und Schmalblättriges Waldvögelein.
Korallenwurz im frühlingshaften Buchenwald
Bis zur hochmittelalterlichen Rodungsphase waren die Hochlagen der Rhön fast vollständig von nährstoffreichen montanen Edelholz-Laubwäldern bedeckt. Seitdem sind diese artenreichen »Urwälder« der Rhön jedoch auf vulkanische Kuppen, steile Hanglagen und Bachtäler zurückgedrängt. Über vulkanischem Gestein wachsen beispielsweise das Manns-Knabenkraut, die Grünliche Waldhyazinthe und das sehr seltene Schmalblättrige Waldvögelein. Auf Muschelkalk sind die wenigen verbliebenen Vorkommen des Frauenschuhs angesiedelt, genau wie die Kleinblättrige Stendelwurz, die bis hoch ins Bergland vordringt.
Die thermophilen Laubwälder in klimatisch günstigen Lagen der östlichen und südlichen Rhön wurden in früheren Zeiten als Nieder- und Mittelwälder genutzt. Hier fanden die Waldvögelein-Arten, aber auch Frauenschuh und Purpur-Knabenkraut geeignete Lebensräume. Doch mit der Aufgabe der traditionellen Nutzungsformen setzt rasch die Gehölzsukzession ein, und die Artenvielfalt geht zurück. Besonders das Blasse Knabenkraut, das in den sommerwarmen und wintermilden Wäldern der Meininger Muschelkalkgebiete vorkommt, ist davon stark betroffen.
Die Nadelwälder der Rhön sind nicht natürlichen Ursprungs, sondern entstanden durch das planmäßige Aufforsten schnellwüchsiger Nadelhölzer. In den lichten Kiefernwäldern auf Kalk ist dennoch eine sehr artenreiche Flora und Fauna anzutreffen, darunter auch zahlreiche Orchideen. Hier hat der Frauenschuh gegenwärtig seine stärksten Vorkommen. Auch Braunrote und Müllers Stendelwurz, Grünliche Waldhyazinthe, Nestwurz und Großes Zweiblatt wachsen hier gern. Ein ausgesprochener Kiefernwald-Spezialist ist das Kriechende Netzblatt, das in etwa 40jährigen Kiefernbeständen sein ökologisches Optimum findet.
Rotes Waldvögelein im Kiefernwald
Säume und Feldgehölze waren in der traditionellen Kulturlandschaft praktisch überall präsent. Mit der landwirtschaftlichen Intensivierung verschwanden auch in der Rhön viele dieser Lebensräume. Dabei sind diese kleinräumigen Habitate ökologisch außerordentlich wichtig, denn sie vernetzen andere Standorte und Biotoptypen miteinander. Auch für die Orchideenstandorte haben sie oftmals Brückenfunktionen.
Grasland
Wacholderheiden und Kalk-Halbtrockenrasen gehören zu den charakteristischsten und ältesten Elementen unserer Rhöner Kulturlandschaft. Sie entstanden als Weideland für Schafe und Ziegen auf besonders mageren Böden. Durch den Verbiss der Huftiere wurde Laubgehölz kurz gehalten, die stacheligen Wacholderbüsche blieben jedoch vom Vieh verschont. Gemeinsam mit ausladenden Solitärbäumen prägen sie den Charakter der Heiden, die mitunter an sorgfältig angelegte Landschaftsgärten erinnern. Wie Inseln liegen sie in der intensiv genutzten Landschaft. Diese Standorte sind heute nur noch mit viel Aufwand zu pflegen und zu erhalten. Als Glücksfall erwies sich dabei die Renaissance des Rhönschafes. Dank seiner Beliebtheit in der regionalen Küche können manche Heidegebiete wieder auf traditionelle Weise bewirtschaftet werden.
Eine andere Entstehungsgeschichte als die Halbtrockenrasen der nördlichen und zentralen Rhön haben die orchideenreichen Kalkhänge im Saaletal und in der südöstlichen Rhön: es sind aufgelassene Weinbergslagen, und so sind hier auch Reste der artenreichen Weinbergsbegleitflora anzutreffen.
Auf sonnig-warmen Kalkstandorten sind im Frühling Manns- und Helm-Knabenkraut gebietsweise häufig anzutreffen. Im Sommer dominiert die Mücken-Händelwurz den Aspekt ihrer Standorte. In halbschattigen Bereichen wachsen Bleiches und Rotes Waldvögelein, Braunrote und Müllers Stendelwurz, Großes Zweiblatt und Grünliche Waldhyazinthe. Die sehr seltene Honigorchis hat in den Enzian-Schillergrasrasen der thüringischen Rhön überregional bedeutende Vorkommen, die Grüne Hohlzunge ist eine Besonderheit der Halbtrockenrasen im Bergwinkel. Ragwurze, Pyramiden-Orchidee, Ohnsporn und Bocks-Riemenzunge sind in nacheiszeitlichen Wärmeperioden aus dem Süden eingewandert und bevorzugen die wärmsten Gegenden der Rhön.
Wiesen und Weiden liegen in der Rhön vor allem auf Böden des Oberen Buntsandsteins oder des Keupers. In den Tallagen und in der Umgebung der Dörfer sind bunte Blumenwiesen aufgrund starker Düngung weitgehend aus der Landschaft verschwunden, denn im Gegensatz zu den sehr mageren Standorten auf trockenen Muschelkalkhängen sind diese Böden ertragreich und landwirtschaftlich entsprechend gut nutzbar. Auf extensiven Wiesen können Großes Zweiblatt, Kleines, Manns- und Breitblättriges Knabenkraut ihre Blütenpracht entfalten, stellenweise wachsen hier auch Weiße Waldhyazinthe und Mücken-Händelwurz. Eine der merkwürdigsten und seltensten heimischen Orchideen ist an besonders magere Weiden gebunden: die Herbst-Wendelähre.
Hangwiese mit Manns-Knabenkraut
Die bunten Bergwiesen an den Hängen der Rhöner Kuppen werden typischerweise zweimal im Jahr gemäht, und ihre Artenzusammensetzung ist von diesem Bewirtschaftungsrhythmus wesentlich beeinflusst. An Orchideen wachsen hier nicht nur Großes Zweiblatt, Mücken-Händelwurz und die beiden Waldhyazinthen, sondern auch Manns-, Kleines, Breitblättriges und sogar das sehr seltene Brand-Knabenkraut. Im Unterschied zu anderen Mittelgebirgen wurden in der Rhön nicht nur die Hangwiesen, sondern auch die Borstgrasrasen der Hochlagen als Heuwiesen genutzt. Aufgrund seiner besonderen klimatischen Exposition bietet das Grasland der Hohen Rhön Lebensräume für Arten, die sonst eher in höheren Gebirgen vorkommen. Hier gedeihen nur wenige Orchideenarten: Die relativ häufige Grünliche Waldhyazinthe, das Manns-Knabenkraut und das inzwischen äußerst selten gewordene Weißzüngel. Das Holunder-Knabenkraut gilt als ausgestorben.
Moore und Sümpfe
Die Hochmoore der Rhön sind besonders wertvolle Lebensräume und wichtige Zwischenglieder der nordischen und alpinen Moore. Sie entstanden nach der Eiszeit durch die Torfproduktion der Torfmoos-Arten in abflusslosen Mulden. Zahlreiche nordisch-boreale Relikte haben hier ein Refugium gefunden, teils weitab ihrer Hauptverbreitungsgebiete. Eines davon ist das Sumpf-Weichblatt, unsere kleinste heimische Orchidee, die als einzige mit den extremen Lebensbedingungen im Hochmoor zurecht kommt.
Die eher kleinräumigen Niedermoore sind in der Rhön vorwiegend an den Hängen der Kalkberge angesiedelt. Orchideen treten in den intakten Kalkflachmooren sehr konstant und teils in beachtlichen Mengen auf: Sumpf-Stendelwurz, Mücken-Händelwurz sowie Breitblättriges und Fuchs‘ Knabenkraut und deren Hybriden, stellenweise auch Großes Zweiblatt und sehr selten Fleischfarbenes Knabenkraut. Doch diese Lebensräume sind akut gefährdet, da sie sehr schwierig zu pflegen und außerdem durch den Nitrateintrag aus umliegenden intensiv genutzten Flächen bedroht sind. Dieser begünstigt hochwüchsige Kräuter, die wiederum die konkurrenzschwächeren Orchideen verdrängen.
Die Feuchtwiesen der Flusstäler und Niederungen zeichnen sich durch einen hohen Grundwasserstand und wasserundurchlässigen Boden aus. An Orchideen gedeihen hier vor allem Großes Zweiblatt, Breitblättriges und Fuchs‘ Knabenkraut. Sehr selten kommt das Fleischfarbene Knabenkraut in nassen Talwiesen vor. Zwei Orchideenarten, die einst in Riedwiesen vorkamen, sind ausgestorben: Wanzen- und Sumpf-Knabenkraut.
Infrastrukturstandorte
Manche Orchideenarten erschließen sich auch Lebensräume, in denen man sie nicht unbedingt vermuten würde, nämlich unsere Siedlungs- und Infrastruktur. Sie wachsen in Hausgärten, Wochenendsiedlungen, Stadtparks und auf Friedhöfen; in stillgelegten Steinbrüchen, an Bahndämmen, an Waldwegen, auf Verkehrsinseln und entlang stark befahrener Straßen und Autobahnen. Es lohnt sich, auch an scheinbar unmöglichen Standorten Ausschau zu halten, denn Orchideen sind immer für eine Überraschung gut.
Manns-Knabenkraut auf einem jüdischen Friedhof
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