Vornehme Zurückhaltung bleibt in medialen Glanz- und Glitterwelten meist unbeachtet. Das scheint auch in den Bergwelten so zu sein, warum sonst könnte ein Berg mit solchen Qualitäten so selten besucht sein? Das Stellihorn hat nicht gerade um seine Aufnahme ins Tourenbuch gebettelt…
Saastal, Wallis: Wir träumen von den hohen Bergen und suchen uns Ziele. Großartige Bilder, pathetische Texte und leidenschaftliche Schilderungen schwirren in unseren Köpfen herum und locken uns unwiderstehlich an. Manches davon bleibt Gedanke, Traum, und manches wird zur Realität. Wir streben in die Höhe und ringen um Gipfel mit großartigen Namen, und wir freuen uns wenn wir unsere Ziele erreichen können.
Nur ein Akklimatisationsberg?
Aber ein Bergsteiger, der nur die Modetouren machen würde, der nur Paraderouten in seinem Buch hätte – wäre der nicht im Grunde genommen arm dran? In unserm Tourenbuch reihen sich zwischen den bekannten Namen Perlen, Raritäten, Geheimnisse ein. Berge, an die wir uns besonders gern erinnern.
Stellihorn
Auf der Suche nach einem Akklimatisationsgipfel hat Andi das Stellihorn ausfindig gemacht. Es ist als Tagestour machbar, ohne viel Gepäck, nicht zu viele und nicht zu wenige Höhenmeter. Inmitten der großartigen Bergwelt des Saastales wird es kaum beachtet. Es ragt als formschöne, isoliert stehende Pyramide in der südlichen Weissmiesgruppe östlich des Mattmark-Stausees auf. Das Stellihorn kann nicht mit großen Wänden oder Eisflanken aufwarten und hat keine namhaften Gratrouten. Stattdessen entsendet es in alle Richtungen mäßig steile, ausladende Kämme und trägt an seiner Nordflanke einen Gletscher, der bis in die Gipfelregion reicht. Die Zustiege sind relativ lang, einsam und gleichförmig.
Der Mattmarksee ist Ausgangs- und Zielpunkt der Tour. Dieser Stausee wartet mit einer traurigen Episode Schweizer Hochgebirgsgeschichte auf. Auf den Tag genau 40 Jahre vor unserer Tour, am 30. August 1965, befand sich unterhalb des heutigen Parkplatzes eine Barackensiedlung für die Bauarbeiter, die mit den Arbeiten am Mattmark-Staudamm beschäftigt waren. Über der Siedlung hing drohend die wüste, zerschrundene Zunge des Allalingletschers, und wie zur Warnung waren schon Tage zuvor Eisblöcke herabgefallen. In den Nachmittasgsstunden löste sich während des Schichtwechsels, als viele Arbeiter in ihren Baracken waren, ein riesiges Stück der Zunge und brach über die Barackensiedlung herein. 88 Menschen, überwiegend italienische Gastarbeiter, fanden dabei den Tod.
Mattmarksee mit Mischabelgruppe
Man hat seitdem viel über die Voraussehbarkeit des Unglücks spekuliert, über Risikomanagement und Gefahrenverringerung auf Gebirgsbaustellen gesprochen, aber auch über die Geringschätzung der Gastarbeiter. Die Informationstafel an der Staumauer schweigt über das Unglück, in der Kapelle von Zer Meiggern, unten im Tal, brennen Kerzen zum stillen Gedenken an die Opfer.
Wir lenken unsere Schritte über die Staumauer und den steilen weglosen Hang hinauf zum Westrücken des Stellihorns, steigen stetig, gleichmäßig und einsam hinauf. Das Panorama, das sich mit jedem Schritt aufwärts weitet, ist Lohn der Mühen. Immer höher heben sich die Monte-Rosa-Gipfel über den schweizerisch-italienischen Grenzkämmen empor, die Mischabelgruppe mit Dom, Täschhorn und Alphubel zeigt sich aus der Distanz in ihrer ganzen Majestät. Die geschwungene Linie des Hohlaubgrates am Allalinhorn ist im Profil zu sehen, Strahlhorn und Rimpfischhorn ragen distanziert über den weiten Gletscherbecken auf. Nach Süden wird der Blick frei bis in die Poebene.
Andi beim Aufstieg zum Stellihorn
Das Stellihorn ist ein Wolkenfänger, über den Bergflanken bilden sich immer neue Wolkenfetzen, zwischen denen die Berge der Umgebung teils deutlich, teils verschleiert vorüberziehen zu scheinen. Nach etwa viereinhalb Stunden Aufstieg stehen wir am Gipfelkreuz, das erst 2004 errichtet wurde. Der letzte Eintrag im Gipfelbuch ist drei Wochen zuvor datiert.
Von unserer luftigen Warte haben wir den besten Blick auf die höheren Nachbarn. Wer aufs Stellihorn steigt, der muss sein Bergerlebnis allenfalls mit Steinböcken, Dohlen und Murmeltieren teilen. Wer das Bergsteigen im ursprünglichen, naturbelassenen Gelände liebt, wer gern über grobes Blockwerk tänzelt und am Grat zupacken kann, der ist hier genau richtig.
Die Gipfelwelt des Monte Rosa, gesehen vom Stellihorn
Im Abstieg rasten wir lange an den sprudelnden Bergbächen oberhalb des Sees – bis die warme Abendsonne hinter unserem nächsten Ziel verschwindet: dem Allalinhorn. Es war ein beglückender Gang in der Einsamkeit, eine Tour in die Ursprünglichkeit der Berge jenseits der übererschlossenen Gebiete des Saastales. Ein paar Tage zuvor kannten wir das Stellihorn noch gar nicht, doch nun sind wir überzeugt, dass das Stellihorn auch für sich allein eine Reise wert gewesen wäre. Wir haben ein echtes Schmuckstück in unserem Tourenbuch. Die schönsten Dinge im Leben sucht man nicht, man findet sie.
Spinnweb-Hauswurz (Sempervivum arachnoideum)
Information
Das Stellihorn (3436 m) gehört zur Weissmiesgruppe und liegt etwas versteckt im hinteren Saastal. Dennoch ist es der erste Gipfel des Saastales, den man bei der Anfahrt von Stalden aus erblickt. Der Normalweg (ob als Gletscher- oder Gratvariante) ist mäßig schwierig und als Tagestour von der Staumauer des Mattmarksees aus mit einer Gesamtgehzeit von etwa 7 Stunden machbar. Dabei legt man etwa 1350 Höhenmeter, meist in weglosem Gelände zurück.
Stellihorn im Morgenlicht
Gesamtzeit
etwa 7 Stunden.
Höhenmeter
1350 m im Auf- und Abstieg.
Schwierigkeit
Wenig schwierig ; G4 ; Kletterstellen II.
Anforderungen
Für die Tour ist Kondition und Bergerfahrung nötig. Bei der Gletscherbegehung ist die entsprechende Ausrüstung unverzichtbar, die Gratkletterei kann jedoch bei entsprechender Erfahrung, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit seilfrei begangen werden, zumal der Grat ohnehin naturbelassen und ohne Sicherungshilfen ist.
Beste Jahreszeit
je nach Verhältnissen Juli – Oktober, Januar – Mai.
Grat vom Vorgipfel zum Hauptgipfel
Sommerroute
Vom Parkplatz bzw. Restaurant am Mattmarksee über die Staumauer und am östlichen Seeufer entlang. Dann aufwärts in Richtung Alpe Distel und bei etwa 2350 m weglos links abzweigend, teils auf undeutlichen Steigspuren, den steilen Grashang hinauf. Auf etwa 2600 m erreicht man den einsamen Talkessel des Wysstales und wendet sich südwärts dem Westrücken des Stellihorns zu, den man über einfache, mäßig steile Felsstufen erreicht. Über den breiten Rücken gelangt man stetig ansteigend über Blockwerk zum Vorgipfel „Stelli“, 3358 m. Von dort auf dem Blockgrat weiter, teils in leichter Kletterei (II), manchmal in die Südwestflanke ausweichend, zum Hauptgipfel, 3436 m. Die Gletscher-Variante führt vom Wysstal nördlich um den Vorgipfel „Stelli“ herum auf den Nollengletscher und an dessen oberem Rand steil in Richtung Gipfel (bis etwa 35°; Vorsicht auf größere Spalten). Die Randkluft knapp unterhalb des Gipfels kann unter Umständen zum unüberwindlichen Hindernis werden. Beide Varianten können auch als Überschreitung kombiniert werden.
Winterroute
Für die Besteigung mit Ski eignet sich die Sommerroute aufgrund der Lawinengefahr an den unteren Steilhängen nicht. Die Skiroute geht westlich um den Mattmarksee herum und quert zum Westrücken, von dort gemeinsam mit der Sommerroute auf den Gipfel.
Anreise
Von Norden aus dem Wallis mit Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln nach Saas Almagell und weiter zum Mattmark-Stausee. Von Süden kann die Mattmark-Region aus dem Valle Anzasca von Macugnaga über den Monte-Moro-Pass (2853 m) erreicht werden. Seilbahn von Macugnaga zur Malnate-Hütte (2.796 m) nahe am Pass, Abstieg in etwa 2,5 Std. auf teils in den Fels gehauenen Pfaden zum östlichen Uferweg des Mattmarksees.
Am Stellihorn-Gipfel
Literatur
Michael Waeber: Walliser Alpen. Rother Gebietsführer, 13. Auflage 2003, ISBN 3-7633-2416-X
Maurice Brandt: SAC-Clubführer Walliser Alpen Band 5, vom Strahlhorn zum Simplon, 1993, ISBN: 3-8590-2129-X
Karten
Landeskarte der Schweiz 1:25.000, Blätter Nrn. 1329 Saas und 1349 Monte Moro
Landeskarte der Schweiz 1:50.000, Zusammenstellung Nr. 5006 Matterhorn-Mischabel
Tourenübersicht: Stellihorn und Allalinhorn
Bilder vom Stellihorn und Allalinhorn auf flickr
Tour auf das Stellihorn
Aufstieg Britanniahütte und Versuch Rimpfischhorn
Allallinhorn-Hohlaubgrat