In der Rhön rücken Orchideenarten mit extrem unterschiedlichen Verbreitungsmustern sehr eng zusammen. So gehört die Korallenwurz zu den wenigen Arten, die sich bis an den Rand des ewigen Eises der Arktis vorgewagt haben: sogar auf Grönland kommt sie vor. Der Ohnsporn dagegen streift mit seinem Verbreitungsareal die Sahara. Er ist bis nach Tunesien, Algerien und Marokko zu finden und wächst gern in den heißesten Lebensräumen unseres Kontinents, den mediterranen Garigues.
In der Rhön aber kommen beide räumlich unmittelbar beieinander vor. Sowohl im Nüsttal als auch am Rande der Hohen Rhön wachsen Korallenwurz und Ohnsporn nur wenige Schritte voneinander entfernt und sind nur durch ihre unterschiedlichen ökologischen Ansprüche voneinander getrennt: Buchenwald und Kalk-Halbtrockenrasen.
Der Überblick über das Arteninventar der Rhön zeigt, dass sich hier Orchideen unterschiedlicher Herkunft begegnen. Nordisch-boreale treffen auf submediterrane. In der Betrachtung geobotanischchorologischer Aspekte wird deutlich, dass die Zusammensetzung unserer Orchideenflora in der Vergangenheit einem stetigen Wandel unterworfen war – und dies wird auch in Zukunft so bleiben.
Mitteleuropa wurde in den jüngsten Jahrmillionen mehrfach von Eiszeiten überrollt. In Mitteleuropa vorkommende Arten wichen vor der eiszeitlichen Kälte und Trockenheit nach Süden aus, kehrten nach Klimaverbesserungen wieder in unsere Breiten zurück und mussten in der nächsten Kälteperiode wieder ausweichen. Bei diesem alternierenden »Hin und Her« sind Arten auf der Strecke geblieben, und darunter waren sicher auch Orchideen, denn die Artenanzahl Mitteleuropas ist verglichen mit den temperaten Zonen Nordamerikas und Ostasiens eher gering.
Die Orchideenflora der Rhön setzt sich – grob zusammengefasst – aus typisch mitteleuropäischen, kontinental-eurasiatischen, boreal-zirkumpolaren und aus atlantisch-submediterranen Arten zusammen. Zu den charakteristischen »Mitteleuropäern« gehören einige der häufigeren Arten wie Manns-Knabenkraut und Fliegen-Ragwurz. Auch die Waldvögelein-Arten sowie Violette, Müllers, Schmallippige und Übersehene Stendelwurz gehören zu dieser Gruppe, des Weiteren noch die sehr seltene Herbst-Wendelähre und das ausgestorbene Holunder-Knabenkraut.
Eine ganze Reihe der heimischen Arten kommt hauptsächlich im eher kontinentalklimatisch geprägten Osteuropa vor, viele von ihnen dringen sogar bis weit nach Asien vor. Darunter sind relativ häufige Arten wie Braunrote und Breitblättrige Stendelwurz, Nestwurz, Mücken-Händelwurz und Großes Zweiblatt, außerdem die beiden Waldhyazinthen, das Helm-Knabenkraut, aber auch die seltenen Arten Sumpf-Stendelwurz, Honigorchis und Brand-Knabenkraut sowie die beiden ausgestorbenen Arten Wanzen- und Sumpf-Knabenkraut.
Weitere der heimischen Orchideenarten kommen vorwiegend in den borealen Gebieten der Nordhalbkugel sowie in den europäischen Hochgebirgen vor: Frauenschuh, Korallenwurz, Sumpf-Weichblatt, Grüne Hohlzunge, und Kriechendes Netzblatt sowie der momentan als verschollen geltende Widerbart und das ausgestorbene Kleine Zweiblatt. Ebenso wie die kontinental-eurasiatische Artengruppe haben auch diese Orchideen große Verbreitungsgebiete; im Unterschied zu jenen Arten kommen diese hier aber nicht in mediterranen Regionen vor, sondern sind an kühlere Klimate gebunden. Das Rosa Kugelknabenkraut ist eine Art der mittel- und südeuropäischen Hochgebirge, die im Norden nicht vorkommt. Allerdings sind die Nachweise aus der Rhön sehr zweifelhaft. Gleiches gilt für die Wohlriechende Händelwurz. Nur als Kuriosität kann ein angebliches, ehemaliges Vorkommen des Roten Kohlröschens, Nigritella rubra, in der Rhön gewertet werden. Aus der nordisch-borealen Artengruppe ist bei uns keine Art häufig, dennoch gilt die Rhön für manche dieser Orchideen als bedeutendes Teilareal innerhalb Deutschlands.
Auch einige aus dem Mittelmeerraum stammende Arten sind in der Rhön vertreten. Als Inbegriff dieser Artengruppe gelten die Ophrys-Arten: Bienen-, Hummel-, Große und Kleine Spinnen-Ragwurz sind typische submediterrane Orchideenarten, die von Südwesten her in die Rhön eingewandert sind. Gleiches gilt aber auch für Bocks-Riemenzunge, Ohnsporn, Pyramiden-Orchidee, Dreizähniges und Purpur-Knabenkraut. Als einzige Art des Hochwaldes und als einzige, die in hohe Lagen vordringt, gehört auch die Kleinblättrige Stendelwurz in diese Gruppe. Alle anderen submediterranen Orchideen wachsen bei uns vorwiegend auf Kalk-Halbtrockenrasen der milden Lagen. Das ist nicht verwunderlich, da unsere Halbtrockenrasen die »gemäßigten« Pendants zu den mediterranen Garigues oder Macchien sind. Auffällig ist, dass aus der mediterranen Gruppe keine einzige Orchideenart in der Rhön ausgestorben ist – im Gegenteil: Ohnsporn, Bocks-Riemenzunge, Hummel- und beide Spinnen-Ragwurze kamen vor hundert Jahren offenbar noch gar nicht in der Rhön vor, sind aber derzeit in Ausbreitung begriffen. Die jüngste Klimaentwicklung hat dazu wohl entscheidend beigetragen. Doch während Orchideenfreunde in Mainfranken vor lauter Neufunden und Bestandszuwächsen ganz im Riemenzungen- und Ragwurz-Delirium sind, sterben in der zentralen Rhön die Gebirgsorchideen weg: das ist die Kehrseite der Medaille.
Einige Arten stoßen aktuell in der Rhön an ihre Arealgrenze: Hummel-Ragwurz, Kleine Spinnen-Ragwurz, Dreizähniges und Blasses Knabenkraut. Die beiden zuerst genannten Arten dringen von Südwesten her bis in die Rhön vor. Die Hummel-Ragwurz hat ihr nordöstlichstes Vorkommen überhaupt in der Rhön, die Funde weiter nördlich und östlich gelten allesamt als Ansalbungen. Das eher südöstlich verbreitete Blasse Knabenkraut steht in den Meininger Muschelkalkgebieten an seiner nordwestlichen Arealgrenze, das Dreizähnige Knabenkraut dagegen ist inselartig in Mitteldeutschland verbreitet und stößt von Nordosten her bis an den Rand der Rhön. Auch das aus dem Südwesten stammende Affen-Knabenkraut ist bis nach Mainfranken vorgestoßen, es wurde zuerst 2014 dort entdeckt.
An isolierten Fundorten kommen Sumpf-Weichblatt und Widerbart vor; sie sind in ganz Deutschland nur noch an wenigen Stellen zu finden. Bei einigen Arten wie Korallenwurz, Honigorchis, Kriechendem Netzblatt und Kleinblättriger Stendelwurz bilden die Rhöner Vorkommen wichtige Teilareale innerhalb Deutschlands. Früher galt dies auch für die Gebirgsorchideen Grüne Hohlzunge und Weißzüngel, die mittlerweile aber beide sehr selten geworden sind. Durch die Vielfalt der Klimate und Lebensräume – sowohl natürlicher wie auch anthropogener Habitate – kommen in der heutigen Rhönlandschaft Tier- und Pflanzenarten unterschiedlichster Ansprüche vor, und das gilt auch für die Orchideen. Unsere Gegend liegt an der Grenze mehrerer Florenregionen und hat Anteil an den Artenspektren der angrenzenden Regionen. Die Rhön als Sammelbecken der mitteleuropäischen Pflanzenwelt: die Orchideen repräsentieren, was für die Gesamtheit der Flora gilt.
Übersicht über die Orchideenarten in der Rhön
In der Rhön wurden bislang die folgenden Orchideentaxa nachgewiesen. Auf den folgenden Seiten werden sie mit ihren Merkmalen, ihrem Standort, ihrer Verbreitung und Bestandsituation und ihrer Gefährdung vorgestellt.
Cypripedium calceolus – Frauenschuh
Corallorrhiza trifida – Korallenwurz
Hammarbya paludosa – Sumpf-Weichblatt
Epipogium aphyllum † – Widerbart
Neottia nidus-avis – Nestwurz
Neottia cordata † – Kleines Zweiblatt
Neottia ovata – Großes Zweiblatt
Cephalanthera damasonium – Weißes Waldvögelein
Cephalanthera longifolia – Schmalblättriges Waldvögelein
Cephalanthera rubra – Rotes Waldvögelein
Limodorum abortivum – Dingel
Epipactis palustris – Sumpf-Stendelwurz
Epipactis atrorubens – Braunrote Stendelwurz
Epipactis microphylla – Kleinblättrige Stendelwurz
Epipactis purpurata – Violette Stendelwurz
Epipactis helleborine – Breitblättrige Stendelwurz
Epipactis muelleri – Müllers Stendelwurz
Epipactis leptochila – Schmallippige Stendelwurz
Epipactis neglecta – Übersehene Stendelwurz
Anacamptis morio – Kleines Knabenkraut
Anacamptis coriophora † – Wanzen-Knabenkraut
Anacamptis palustris † – Sumpf-Knabenkraut
Anacamptis pyramidalis – Pyramiden-Orchidee
Ophrys insectifera – Fliegen-Ragwurz
Ophrys apifera – Bienen-Ragwurz
Ophrys fuciflora – Hummel-Ragwurz
Ophrys sphegodes – Spinnen-Ragwurz
Ophrys araneola – Kleine Spinnen-Ragwurz
Himantoglossum hircinum – Bocks-Riemenzunge
Neotinea tridentata – Dreizähniges Knabenkraut
Neotinea ustulata – Brand-Knabenkraut
Orchis mascula – Manns-Knabenkraut
Orchis pallens – Blasses Knabenkraut
Orchis anthropophora – Ohnsporn
Orchis militaris – Helm-Knabenkraut
Orchis simia – Affen-Knabenkraut
Orchis purpurea – Purpur-Knabenkraut
Gymnadenia conopsea – Mücken-Händelwurz
Gymnadenia splendida – Prächtige Händelwurz
Dactylorhiza incarnata – Fleischrotes Knabenkraut
Dactylorhiza viridis – Grüne Hohlzunge
Dactylorhiza majalis – Breitblättriges Knabenkraut
Dactylorhiza fuchsii – Fuchs‘ Knabenkraut
Dactylorhiza sambucina † – Holunder-Knabenkraut
Platanthera bifolia – Weiße Waldhyazinthe
Platanthera chlorantha – Grünliche Waldhyazinthe
Pseudorchis albida – Weißzüngel
Herminium monorchis – Honigorchis
Spiranthes spiralis – Herbst-Wendelähre
Goodyera repens – Netzblatt
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